«Nr. 77 – September 2006 Osteuropaforschung – 15 Jahre „danach“ Beiträge für die 14. Tagung junger Osteuropa-Experten Veranstaltet von ...»
Argumente aus verschiedenen Theorien deuten darauf hin, dass die Effektivität und Legitimität in Bezug auf die Umsetzung des EU Rechts erhöht werden kann, wenn Kooperation von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren stattfindet1. Aus der Perspektive des Rationalismus ergeben sich für beide Akteursgruppen unterschiedliche Nutzen und Risiken, wenn sie miteinander kooperieren.
Aus staatlicher Sicht legt die Transaktionskostentheorie nahe, dass die Einbindung von privaten Akteuren in den Politikprozess lange Verhandlungen und Diskussionen verhindert und so Kosten bereits bei der Politikformulierung reduziert werden. Dadurch, dass relevante Akteure bereits bei der Politikformulierung einbezogen werden und die Instrumente zur Umsetzung mitbestimmen können, erhöht sich ihre Zustimmung zu den getroffenen Entscheidungen (Eppstein und O'Halloran 1999; Héritier 2003). Im Gegensatz dazu ließe sich natürlich auch argumentieren, dass die steigende Anzahl der Teilnehmer den Verhandlungsprozess verlängert und erschwert. Die Einbeziehung aller relevanten Akteure in den Politikprozess birgt weitere mögliche Vorteile: die soziale Akzeptanz (Legitimität) kann erhöht werden und die Betroffenen einer Regelung können sich mit dieser eher identifizieren, was die Einhaltung von Regelungen erhöht. Die Implementierung wird erleichtert. Des Weiteren können Vetospieler und Opposition Für einen umfassenden Überblick über die theoretischen Argumente siehe Börzel, Tanja A. 1998. Organizing Babylon. On the different conceptions of policy networks. Public Administration 76:253–273, Börzel, Tanja A., Sonja Guttenbrunner, and Simone Seper. 2005. Conceptualizing New Modes of Governance in EU Enlargement. Contractual Deliverable, www.eu-newgov.org, Free University Berlin, Héritier, Adrienne. 2003. New Modes of Governance in Europe: Increasing Political Capacity and Policy Effectiveness? In The State of the European Union, 6 – Law, Politics, and Society, edited by T. A. Börzel and R. Cichowski. Oxford: Oxford University Press.
Osteuropaforschung – 15 Jahre „danach“ 123 umgangen werden, da sich die privaten Akteure eher mit Policies identifizieren, an denen sie mitgewirkt haben, und so vielleicht auch nach einem Machtwechsel auf staatlicher Seite an den ursprünglichen Entwürfen zur Umsetzung einer gewissen EU Richtlinie festhalten möchten.
Durch die bereits angesprochene Erhöhung der Legitimität wird eventuellen Gegnern und Kritikern der Regelung der Wind aus den Segeln genommen. Ein weiteres ganz wichtiges Argument ist das Wissen, dass durch die Beteiligung einer möglichst breiten Öffentlichkeit akquiriert werden kann (Moe 1987). Gerade die Staaten Ostmitteleuropas, denen es an administrativer Kapazität mangelt, könnten hier von den Ressourcen privater Akteure profitieren.
Welche Vorteile erwarten sich aber nicht-staatliche Akteure, also Unternehmen, Gewerkschaften, Verbände, Interessensgruppen, Vereine, etc. wenn sie eine solche Kooperation eingehen?
Ein Grund ist sicherlich der Einfluss, den sie durch die Beteiligung am Politikprozess gewinnen.
Sie können die sie betreffende Politik zu einem gewissen Grad mitgestalten und so möglicherweise die Kosten zur Einhaltung einer Regelung niedriger halten. Nicht nur für die staatlichen Akteure ist das Know How der nicht-staatlichen Akteure interessant, auch für nicht-staatliche Akteure könnten die Informationen, zu welchen sie durch die Zusammenarbeit Zugang bekommen, ein wichtiger Anreiz für Kooperationen sein.
Natürlich sind solche rationalistischen Überlegungen auch immer mit der Abwägung der Kosten von Kooperationen verbunden. Gerade auf staatlicher Seite ergeben sich einige Risiken, wenn sie nicht-staatliche Akteure einbinden. Es können Informationsasymmetrien auftreten. In einem Bereich, in dem private Akteure einen Wissensvorsprung haben, besteht die Gefahr, dass staatliche Akteure den Überblick und damit Einfluss auf diesen Regelungsbereich verlieren. Die staatlichen Akteure müssten Angst haben, dass nicht-staatliche Akteure ihre Aufgaben übernehmen, vorwiegend in ihrem eigenen Interesse handeln und der Staat keine Kontrolle mehr hat.
Bei Kooperation jeglicher Art kommt hinzu, dass die Beteiligten sich nie sicher sein können, zu welchem Zeitpunkt sich der oder die anderen Beteiligten aus der Zusammenarbeit zurückziehen beziehungsweise zu Trittbrettfahrern werden. Hier tritt dann ein typisches Problem kollektiven Handelns auf.
Polen und die Umsetzung von vier EU Umweltrichtlinien2 Die Frage ist nun, ob und unter welchen Bedingungen es zur Kooperation von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren im Erweiterungsprozess kommt. Dies soll am Beispiel von vier europäischen Umweltrichtlinien in Polen gezeigt werden. Einerseits könnte es im OsterweiteDiese Fallstudie wurde im Rahmen des im 6. Rahmenprogramm der EU finanzierten Projektes „New Modes of Governance – Coping with Accession“ durchgeführt. Nähere Informationen unter http://www.eu-newgov.org/ 124 Beiträge für die 14. Tagung junger Osteuropa-Experten rungsprozess der EU zu vermehrter Kooperation kommen, da die Staaten eher schwache Kapazitäten haben und gleichzeitig der Herausforderung gegenüberstehen, den acquis communautaire umzusetzen. Andererseits sind es gerade schwache Staaten, die die genannten Risiken zu fürchten haben. Im Fall der Umsetzung von Umweltrichtlinien in Polen scheint letzteres der Fall zu sein. Um die nicht-hierarchische Kooperation von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren in diesem Bereich zu untersuchen, wurden exemplarisch vier Richtlinien ausgewählt. Zwei dieser Richtlinien, nämlich die Großfeuerungsanlagenrichtlinie3 und die Trinkwasserrichtlinie4 sind Regelungen, die sehr hierarchisch in ihrer Charakteristik sind. Die Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung5 und die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie6 sehen jedoch die Einbeziehung von nicht-staatlichen Akteuren bereits in ihren Verfahren vor. In den ersten beiden Richtlinien würde man also eher keine Kooperation erwarten, obwohl gerade diese Richtlinien sehr technisch sind und hohe Anpassungskosten verursachen, was für die Beteiligung privater Akteure und die Nutzung ihrer Ressourcen sprechen würde. Die Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung sowie die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie hingegen sind Fälle, in denen das Auftreten von Kooperation wahrscheinlich ist.
Erste empirische Resultate zeigen jedoch, dass zur Umsetzung der genannten Richtlinien kaum nicht-staatliche Akteure in den Politikprozess miteinbezogen wurden. Was sind die Hauptgründe für die fehlende Kooperation?
Wie es scheint, sind die Risiken einer Kooperation für einen Staat, der durch den Transformationsprozess noch geschwächt ist, zu groß. Schwache finanzielle und administrative Ressourcen im polnischen Umweltbereich führen nicht zu vermehrter Kooperation, sondern im Gegenteil zu einer strikten hierarchischen Umsetzung der von der EU vorgegebenen Ziele. Dies kann bei beiden Arten von Richtlinien beobachtet werden. Nur für die Kennzeichnung der in der FaunaFlora-Habitat-Richtlinie verlangten, schützenswerten Gebiete wurden Aufträge an private Institute und Umweltorganisationen vergeben. Dies kam aber erst zu Stande, nachdem die Europäische Kommission Druck auf das polnische Umweltministerium ausübte, ihre Inventarisierung dieser Gebiete zu verbessern. Im Fall der Umweltverträglichkeitsprüfung scheint alles darauf hinzudeuten, dass die Umsetzung im Endeffekt sehr schnell erfolgen musste um EU Förderungen zu sichern und daher auf eine breite Einbeziehung verschiedenster Akteure verzichtet wurde. Im Falle Großfeuerungsanlagen- und Trinkwasserrichtlinie sind vermutlich fehlende administrative Kapazitäten für fehlende Kooperation verantwortlich. Angst vor Informationsasymmetrien und somit die Angst, den Prozess nicht mehr vollständig steuern zu können, scheint hier ausschlaggebend zu sein.
Die Herausforderung, die Bedingungen für die EU Mitgliedschaft zu erfüllen, hat in der polnischen Umweltpolitik nicht zu mehr Kooperation zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren geführt. Weitere Forschung muss sich noch intensiver mit der Frage beschäftigen, warum dies nicht der Fall war. Vor allem müssen die Anreizstrukturen nicht-staatlicher Akteure untersucht werden. Welche Anreize haben nicht-staatliche Akteure Kooperationen einzugehen, warum üben sie nicht mehr Druck auf öffentliche Akteure aus, sie in den Politikprozess mit einzubeziehen? Außerdem wäre es interessant, weitere Untersuchungen in anderen Politikfeldern durchzuführen, um die Bedeutung von politikfeldspezifischen Faktoren zu überprüfen und die Bedingungen für die Entstehung neuer Kooperationsformen im Erweiterungsprozess herauszufinden.
Richtlinie 2001/80/EG zur Begrenzung von Schadstoffemissionen von Großfeuerungsanlagen in die Luft Richtlinie 98/83/EG über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch Richtlinie 97/11/EG zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten Richtlinie 92/43/EWG zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (Fauna-Flora-Habitat) Osteuropaforschung – 15 Jahre „danach“ 125 Literatur Börzel, Tanja A. 1998. Organizing Babylon. On the different conceptions of policy networks.
Public Administration 76:253–273.
Börzel, Tanja A., Sonja Guttenbrunner, and Simone Seper. 2005. Conceptualizing New Modes of Governance in EU Enlargement. Contractual Deliverable, www.eu-newgov.org, Free University Berlin.
Eppstein, David, and Sharyn O’Halloran. 1999. Delegating Powers: A Transaction Cost. Cambridge: Cambridge University Press.
Héritier, Adrienne. 2003. New Modes of Governance in Europe: Increasing Political Capacity and Policy Effectiveness? In The State of the European Union, 6 – Law, Politics, and Society, edited by T. A. Börzel and R. Cichowski. Oxford: Oxford University Press.
Moe, Terry. 1987. An Assessment of the Positive Theory of Congressional Dominance. Legislative Studies Quarterly 12 (4):475–520.
Mara Kuhl Allianzen für die europäische Wertegemeinschaft: Staat und Zivilgesellschaft in Estland Wie die Athener Erklärung, die bei der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages von den Staatsund Regierungschefs der dann 25 EU-Staaten abgegeben wurde, zeigt die Debatte um den (Nicht-)Beitritt der Türkei, dass die EU den Anspruch hat, eine politisch-normative Union, eine Wertegemeinschaft, zu sein. Das Konzept EU ist das einer transnationalen Gemeinschaft, in der „Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität geübt werden“ und alle Bürgerinnen und Bürger unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Behinderung und anderen Merkmalen frei von Diskriminierung leben sollen.1 Die in Deutschland heftig geführte Diskussion um die Umsetzung des EU-Antidiskriminierungsrechts2 ist ein Beispiel dafür, wie schwer sich Nationalstaaten mit der Konkretisierung des Bekenntnisses zur Wertegemeinschaft tun. Auch die Länder Mittelund Osteuropas, die der EU beigetreten sind und auf die wirtschaftlichen und normativrechtlichen Vorgaben des Acquis konditioniert wurden, diskutieren, wie die darin implizit und explizit enthaltenen politisch-normativen Ansprüche der EU einzulösen sind.
Staatliche Gleichstellungspolitik für Männer und Frauen in den jungen post-kommunistischen Ländern ist wesentlich durch den europäischen Normentransfer beeinflusst. Ausgehend von meiner Untersuchung zur Entwicklung der Gleichstellung in Estland möchte ich nationale Merkmale dieses Politikfeldes darstellen, da sie institutionellen „Mustern“ entsprechen und „Trends“ (Junge Osteuropa-Experten 2006) staatlich-gesellschaftlicher Interaktion aufweisen, die für das Wachsen einer europäischen Wertegemeinschaft von entscheidender Bedeutung sein können3.
Endet die Wertegemeinschaft im Osten bei der Gleichstellung?
Die Propagierung europäischer Grundwerte wie Gleichheit und Solidarität trifft bei vielen der ehemals sozialistisch regierten Länder nicht auf taube, sondern auf überstrapazierte Ohren. Die Begriffe der EU sind oft die gleichen wie die der kommunistischen Zeit, auch wenn heute andere Konzepte dahinter stehen. So bezieht sich der europäische Begriff der „Gleichheit“ auf das gesellschaftliche Ziel der Gleichwertigkeit der Ausgangsbedingungen (Chancengleichheit) und nicht auf Gleichheit als Ergebnis eines Verteilungsprozesses (Ergebnisgleichheit).